In „Jimi Hendrix live in Lemberg“ verschmolzen einst Religionen und Ethnien, hier werden die kleineren Sprachen Europas gesprochen. Kurkow vereint mühelos Gegensätze jeglicher Art in dieser literarischen Unternehmung. Alik und seine Freunde versammeln sich auf dem Lytschakiwski-Friedhof in Lemberg, um vor einem Eisenkreuz ihres Idols, Jimi Hendrix, zu gedenken. Hendrix selbst hat nie den Weg in die Ukraine gefunden, und zu Zeiten des Kalten Krieges wäre ein Gastspiel in Lemberg undenkbar gewesen. Dennoch wissen Alik und seine Freunde, dass nach Hendrix‘ Tod zumindest eine seiner Hände es über den Eisernen Vorhang geschafft hat. Ob es die rechte oder linke Hand ist, kann nicht einmal genau gesagt werden. Die erstaunliche Enthüllung verdanken die Hendrix-Fans jedoch dem ehemaligen KGB-Hauptmann Rjabzew, der einst Alik ausspionierte. Heute sucht er Aliks Freundschaft und offenbart nach und nach seine geheimen Taten. Ist es Einsamkeit, die Rjabzew zu Alik treibt, oder die spärliche Rente, die ihn dazu bringt, schlecht über seinen ehemaligen Arbeitgeber zu sprechen? Es könnte von allem ein wenig sein.
Alik und Rjabzew entdecken gemeinsam die seltsamen klimatischen Phänomene von Lemberg. Das Wetter der Stadt gibt Rätsel auf: Feuchte Luft, Meeresgeruch auf den Straßen und Möwen am Himmel, weit entfernt von allen europäischen Meeren. Als eine Möwe in das Fenster von Oxana fliegt, eilen ihr Freund Taras und der polnische Friseur Jerzy Astrowski zu Hilfe. Ähnlich wie Alik und Rjabzew entwickeln Taras und Jerzy trotz anfänglicher Abneigung eine Bekanntschaft. Jerzy, depressiv, nimmt Taras eine tägliche Unachtsamkeit übel: Taras tritt müde auf die defekte fünfte Treppenstufe, wenn er frühmorgens nach Hause kommt. Oxana bringt resolut eine naheliegende Lösung in den Konflikt ein – eine Reparatur – und weckt Jerzy nebenbei durch ihr energisches Auftreten auf. Während Jerzy trotz neu entdeckter Körperhygiene und Friseurtalent Ausdauer bei Annäherungsversuchen an Oxana zeigen muss, entwickeln sich für Taras Geschäft und Privatleben bestens. Bei Dunkelheit fährt Taras in einem alten Opel über Lembergs holprige Pflastersteine, um Patienten aus dem Ausland zu massieren. Die mobile Massage löst zuverlässig Gallensteine, und so fließen Dollars und polnische Złotys verlässlich in Taras‘ Taschen. In der Geldwechselstube bandelt Taras mit Darja an, die nicht wegen der nächtlichen Kälte, sondern aufgrund einer Geldallergie Handschuhe trägt.
„Jimi Hendrix live in Lemberg“ platzt förmlich vor Kuriositäten, angefangen bei diesen bis hin zu weiteren skurrilen Begebenheiten. Dass der Geheimdienst für so manche Absurdität in der Gegenwart herhalten muss, mag auf den ersten Blick wenig erstaunlich sein. Im Nachhinein erweist sich der KGB jedoch für Literaten durchaus als nützlich. Kurkow zeigt seine Originalität, indem er reale Alltagsphänomene in seinem absurd-heiteren Roman humorvoll umdeutet. Die maroden Straßen von Lemberg werden von Kurkow kurzerhand zur „Einnahmequelle“ umfunktioniert, und er beweist, dass die Mischung aus Phantasie und Geschäftssinn, wie sie Taras verkörpert, auch in der Gegenwart erforderlich ist – ein Prinzip, das oft dem Kommunismus zugeschrieben wird. Kurkows Figuren sind allesamt typisch, oder genauer gesagt, stereotyp, wenn man es mit seiner präzisen Figurenzeichnung so nehmen möchte. Jede Lemberger Persönlichkeit hätte im Grunde ihre eigene Geschichte verdient. Doch einen langen, trotz aller Einfälle letztlich losen Plot webt Kurkow aus zwei Handlungssträngen. Am Ende führt das Geschehen zur konkreten Lösung der Frage: Was ist eigentlich mit dem Wetter in Lemberg los? Hinter der Antwort verbirgt sich wiederum ein weiterer genialer Einfall.
Ende der 1990er-Jahre erlangte Andrej Kurkow mit dem Roman „Pinguin auf dem Eis“ Bekanntheit. In dieser Geschichte hält ein vereinsamter Autor einen Pinguin als Haustier und erlangt Erfolg, indem er Nekrologe für noch lebende Persönlichkeiten verfasst. Kurkow näherte sich auf kafkaeske und leichte Weise der kriminellen Umbruchszeit in der ehemaligen Sowjetunion. Seitdem hat sich der Autor literarisch kaum umorientiert. Wenn er die Handlungen seiner Figuren erklärt, geschieht dies meist brüsk oder er formuliert das Selbstverständliche. Auf Plausibilität und geschmeidige Übergänge legt er wenig Wert. Der Raum für Interpretationen und Rückschlüsse auf tatsächliche Gegebenheiten bleibt weit und liegt vollständig beim Leser. Denn trotz aller Absurditäten geht es Kurkow auch in „Jimi Hendrix live in Lemberg“ um die Gegenwart seines Landes. Doch möglicherweise geschieht in diesem Roman einfach zu viel – manches ist tatsächlich amüsant, anderes eher gewollt lustig –, als dass sich der Leser am Ende der Lektüre noch der Suche nach einer Antwort widmen möchte: Was hat das alles mit Lemberg zu tun?
*Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Käufen.
