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Norbert Gstrein

Buchempfehlung-Norbert Gstrein, In der Luft

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Norbert Gstreins In der Luft – Drei lange Erzählungen ist eine Sammlung von Geschichten, die sich mit den Schicksalen dreier Außenseiter auseinandersetzt. Jede Erzählung beleuchtet auf eigene Weise das Leben von Figuren, die „in der Luft hängen“, sich also nicht in die Gesellschaft einfügen können oder wollen. Gstreins präziser, lakonischer Stil und die psychologische Feinheit seiner Charakterzeichnungen machen dieses Werk zu einer eindrucksvollen Lektüre.

Die drei Erzählungen im Überblick

  1. Jakob – Der Außenseiter aus der Familie

    Die erste Geschichte porträtiert Jakob, ein begabtes, aber unglückliches Familienmitglied, das auch in früheren Werken von Gstrein erwähnt wurde. Als Kind wurde Jakob aufgrund seiner Begabung ins Gymnasium geschickt, was damals eine große Ausnahme darstellte. Doch anstatt von dieser Förderung zu profitieren, erlitt er ein traumatisches Erlebnis, das ihn zum Außenseiter machte. Seine Unfähigkeit, sich in die gesellschaftlichen Erwartungen einzufügen, führt dazu, dass er in späteren Jahren ein einsames, fast trostloses Leben führt. Gstrein zeichnet ein eindringliches Bild von Jakobs Existenz, die mehr einem „Hausten“ als einem „Leben“ gleicht. Diese Erzählung ist sowohl einfühlsam als auch schmerzhaft ehrlich und gibt Einblicke in die Konsequenzen sozialer Isolation.

  2. Die Ballonfahrt von Auguste Piccard

    In der zweiten Erzählung wendet sich Gstrein einem historischen Ereignis zu: der Ballonfahrt des Physikers Auguste Piccard, der 1931 mit seinem Fesselballon einen Höhenflugrekord aufstellte. Diese Geschichte hebt sich durch ihre historische Perspektive und ihren fast dokumentarischen Stil von den anderen ab. Doch auch hier bleibt das zentrale Thema die Einsamkeit und Isolation, die Piccard während seines Rekordflugs erfährt. Der Physiker wird zur Symbolfigur für den Menschen, der auf der Suche nach Erkenntnis und Rekorden buchstäblich „in der Luft“ hängt, weit entfernt von den gewöhnlichen menschlichen Beziehungen und der Gesellschaft.

  3. Der Schriftsteller ohne Halt

    Die dritte Geschichte handelt von einem eigensinnigen Schriftsteller, der in einem Gespräch mit einer Ärztin nach und nach seinen Halt verliert. Diese Erzählung ist die persönlichste und introspektivste der drei und beleuchtet das fragile Gleichgewicht zwischen der kreativen Arbeit eines Künstlers und dessen innerer Zerrissenheit. Der Schriftsteller, gefangen zwischen seiner künstlerischen Berufung und seiner Unfähigkeit, stabile Beziehungen aufzubauen, wird zu einem Sinnbild für den Verlust von Orientierung und Bodenhaftung. Die Reflexionen über das Schreiben und die innere Leere, die damit einhergehen kann, verleihen dieser Geschichte eine existenzielle Tiefe.


Das verbindende Thema: Außenseitertum

Der Titel In der Luft ist weit mehr als eine wörtliche Referenz auf die zweite Erzählung. Alle drei Figuren, Jakob, Piccard und der Schriftsteller, teilen das Gefühl, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben. Sie sind gesellschaftlich, emotional oder existenziell entwurzelt, was sie zu Außenseitern macht. Diese gemeinsame Grundstimmung verleiht der Sammlung eine inhaltliche Kohärenz, obwohl die Erzählungen in verschiedenen Schaffensperioden des Autors entstanden sind.

  • Jakob ist ein Außenseiter, weil er in der Großstadt und später auch in der dörflichen Gemeinschaft keinen Platz findet. Sein Scheitern wird durch familiäre und gesellschaftliche Erwartungen noch verstärkt.
  • Piccard ist ein Außenseiter, weil er sich mit seiner wissenschaftlichen Leidenschaft buchstäblich in andere Sphären begibt. Seine Höhenflüge stehen sinnbildlich für seine Entfernung von der menschlichen Gemeinschaft.
  • Der Schriftsteller schließlich ist ein Außenseiter, weil er sich von seinen Mitmenschen abschottet und die sozialen Regeln, die ihn umgeben, nicht akzeptieren kann oder will.

Erzählstil und literarische Qualität

Norbert Gstrein besticht auch in diesem Werk durch seinen präzisen und schnörkellosen Stil. Die drei Erzählungen sind unterschiedlich in Ton und Perspektive, aber alle zeichnen sich durch eine beeindruckende sprachliche Klarheit und psychologische Tiefe aus. Besonders hervorzuheben ist Gstreins Fähigkeit, komplexe innere Zustände mit wenigen, treffenden Worten zu beschreiben.

Die narrative Vielfalt – von der persönlichen Tragödie über das historische Ereignis bis hin zur introspektiven Reflexion – zeigt Gstreins Vielseitigkeit als Autor. Er versteht es, unterschiedliche literarische Genres und Erzählweisen zu einem thematisch dichten Gesamtwerk zu verbinden.



In der Luft – Drei lange Erzählungen ist ein herausragendes Werk, das durch seine Vielseitigkeit und thematische Tiefe überzeugt. Die drei Geschichten ergänzen sich und eröffnen ein Kaleidoskop von Perspektiven auf das Leben von Außenseitern. Gstreins Porträts sind einfühlsam und gleichzeitig schonungslos, was den Leser immer wieder herausfordert, aber auch nachhaltig beeindruckt.

Die Stärke des Werks liegt in seiner universellen Thematik. Das Gefühl, „in der Luft zu hängen“, keinen festen Platz in der Welt zu haben, ist ein zeitloses und menschliches Thema, das Gstrein meisterhaft in verschiedenen Kontexten beleuchtet. Besonders gelungen ist die Mischung aus psychologischer Feinheit, historischer Perspektive und existenzieller Reflexion.

Ein möglicher Kritikpunkt ist die unterschiedliche Dichte der Erzählungen. Während Jakobs Geschichte und die Ballonfahrt von Piccard durch ihre klaren Narrative und ihre starke Symbolik überzeugen, wirkt die dritte Erzählung stellenweise weniger fokussiert. Doch gerade diese Unvollkommenheit kann auch als Spiegel der inneren Zerrissenheit des Schriftstellers verstanden werden.

Mit In der Luft legt Norbert Gstrein eine Sammlung vor, die durch ihre erzählerische Vielfalt und ihre thematische Kohärenz beeindruckt. Die drei Erzählungen sind nicht nur Porträts von Außenseitern, sondern auch tiefgründige Reflexionen über menschliche Isolation und das Streben nach Sinn. Gstreins klarer Stil und seine literarische Sensibilität machen dieses Buch zu einer lohnenden Lektüre, die weit über die Geschichten hinaus zum Nachdenken anregt. In der Luft ist ein Werk, das die Grenzen zwischen persönlichem Schicksal und universeller Bedeutung meisterhaft auslotet.