
Buchanalyse: „Fast genial“ von Benedict Wells
„Fast genial“ ist der dritte Roman des deutsch-schweizerischen Autors Benedict Wells, veröffentlicht im Jahr 2011. In diesem Buch entführt Wells seine Leser auf eine emotionale und bewegende Reise durch die USA, in der sich persönliche Krisen, gesellschaftliche Fragen und die ewige Suche nach Identität vermischen. In typischer Wells-Manier bringt der Roman sowohl die Schattenseiten des Lebens als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf eindringliche Weise zum Ausdruck.
Inhalt: Die Suche nach dem genetischen „Vater“
Die Geschichte dreht sich um Francis Dean, einen 17-jährigen Jungen, der in prekären Verhältnissen in einer heruntergekommenen Trailerpark-Siedlung in New Jersey lebt. Sein Leben ist alles andere als einfach: Seine Mutter leidet unter schweren Depressionen und verbringt die meiste Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Als Francis herausfindet, dass sein biologischer Vater Teil eines geheimen Genexperiments in den 1970er Jahren war, bei dem angeblich „überdurchschnittlich intelligente“ Kinder gezeugt werden sollten, beginnt er, Antworten zu suchen.
Begleitet von seinem besten Freund Grover und der geheimnisvollen Anne-May begibt sich Francis auf einen Roadtrip quer durch die USA, um seinen Vater zu finden. Diese Reise wird für ihn nicht nur eine physische, sondern vor allem eine emotionale Suche nach seiner Identität, nach einem Ausweg aus dem Schicksal, das ihm scheinbar vorbestimmt ist.
Themen des Romans
Fast genial behandelt zentrale Themen wie Herkunft, Selbstfindung und den Kampf gegen das Gefühl, im Leben festzustecken. Benedict Wells zeigt in diesem Roman die Zerrissenheit einer Jugend, die sich in einer Welt zurechtfinden muss, in der die äußeren Umstände oft erdrückend erscheinen. Francis‘ Hoffnung, dass die Entdeckung seines genetischen Vaters einen Ausweg aus seiner schwierigen Situation bieten könnte, steht im Mittelpunkt der Handlung und spiegelt eine verbreitete Sehnsucht nach einem „Neustart“ wider.
Wells greift auch die Idee der genetischen Vererbung auf: Ist Intelligenz, Erfolg oder gar Glück eine Frage der Gene? Durch das Experiment, das Francis’ Vater zeugte, wird diese Frage auf provokante Weise in den Raum gestellt. Doch letztlich zeigt der Roman, dass Identität weit mehr ist als nur das biologische Erbe – sie ist das Ergebnis persönlicher Entscheidungen, Begegnungen und Erfahrungen.
Charaktere: Authentisch und verletzlich
Die Figuren in Fast genial sind, wie in vielen von Wells‘ Romanen, zutiefst menschlich und vielschichtig. Francis Dean, der Protagonist, ist ein zurückhaltender und zugleich innerlich zerrissener Junge, der zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankt. Seine Unsicherheiten und seine Suche nach Zugehörigkeit machen ihn zu einer Figur, mit der sich viele Leser identifizieren können.
Grover, sein bester Freund, bringt mit seinem Humor und seiner Lockerheit eine gewisse Leichtigkeit in die Geschichte, obwohl auch er innerlich mit vielen Problemen zu kämpfen hat. Anne-May, die geheimnisvolle junge Frau, die sie auf ihrer Reise begleitet, bleibt lange ein Rätsel, doch ihre Verbindung zu Francis und Grover entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem wichtigen emotionalen Ankerpunkt.
Wells schafft es, die Charaktere durch ihre Verletzlichkeit und ihre Sehnsüchte lebendig werden zu lassen. Ihre Unsicherheiten und Hoffnungen spiegeln die universellen Ängste und Wünsche vieler junger Menschen wider, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen und versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden.
Schreibstil: Emotional und eindringlich
Benedict Wells ist bekannt für seinen zugänglichen und zugleich poetischen Schreibstil, und Fast genial bildet da keine Ausnahme. Der Roman ist leicht zu lesen, doch hinter der scheinbar einfachen Sprache verbirgt sich eine emotionale Tiefe, die die Leser unweigerlich in ihren Bann zieht. Wells versteht es, kleine alltägliche Beobachtungen mit großen existenziellen Fragen zu verweben und dabei nie ins Kitschige oder Übertriebene abzudriften.
Besonders auffällig ist seine Fähigkeit, Stimmungen und Gefühle durch präzise, aber unaufdringliche Beschreibungen zu transportieren. Die melancholische Grundstimmung des Romans wird durch die karge Umgebung des amerikanischen Hinterlands und die oft desillusionierten Gedanken der Charaktere verstärkt.
Fazit: Ein Roadtrip zu sich selbst
Fast genial ist ein bewegender Roman über die Suche nach Identität, die Bedeutung von Herkunft und die Frage, ob das Leben vorbestimmt oder selbst formbar ist. Mit einer Mischung aus Melancholie, Hoffnung und feinem Humor führt Benedict Wells seine Leser durch eine Geschichte, die sowohl emotional berührt als auch zum Nachdenken anregt. Der Roadtrip durch die USA wird hier zur Metapher für die innere Reise, die Francis und seine Freunde antreten müssen, um sich selbst zu finden.
Der Roman spricht vor allem junge Erwachsene an, die selbst in einer Phase der Selbstfindung stecken, doch durch seine tiefgründige Auseinandersetzung mit universellen Fragen kann Fast genial Leser jeden Alters begeistern. Benedict Wells zeigt einmal mehr, warum er zu den wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren gehört.
Wenn du nach einem Roman suchst, der dich emotional mitnimmt und gleichzeitig zum Nachdenken anregt, ist Fast genial genau die richtige Wahl.